Geschichten aus dem Leben





Schau dich gesund, wenn du noch durchblicken kannst

Frisch vom Augenarzt gekommen, noch mit den Sehstörungen von den Augentropfen, die mir der Onkel Doktor zum Erweitern der Pupillen in meine Glubscher geträufelt hatte, plus mit den Sehstörungen, die sich schon sowieso irgendwie irgendwo bei mir in der höheren Etage eingenistet haben, will ich mich euch mitteilen. 


Obwohl der sonst schwarze Rand des PCs jetzt wie frisch eingeschneit erscheint, eingeschneit von oben, von unten, von rechts und von links, versuche ich Fassung zu bewahren. Eine bizarre Form und es tut mir leid, dass er nicht immer so aussehen wird. 


Doch auch die Türen- und Fensterahmen sehen aus, als stünden sie neben sich. 


Von Berlin ganz zu schweigen.

Ich bin eine Stunde zu Fuß durch die Stadt heimwärts getaumelt und die Welt war wie aus Watte, eine Watte, in die ich mich ständig verstrickte, so dass ich, zuhause angekommen, schwitzend und mit generellschmerzenden Gliedern sofort ins Bett gefallen bin.

Gestern 12Uhr 10 hab ich noch mit einer Freundin gequatscht und ihr gesagt, ich gehe zu keinen Arzt. Dann hab ich mir einen Mittagsschlaf gegönnt und als ich die Augen aufschlug, hatte ich ein so irres Muster vor den Augen, dass Laser- Animationen dagegen pippifax sind. Die Animation, die ich sah, war wie ein Gewitter vom Saturn: Blitze, Kreise, Feuerkreise, Pulsare, Zittern und Beben, dass ich so schnell wie möglich zum Telefon gegrabscht habe und der Reihe nach Augenarztpraxen anrief.


2619471575094……………..zzzzzzz........zzzzzzz.............zzzzzzz

„Hallo, hier ist die Praxis Dr.Augenwischerei. Was kann ich für Sie tun?“
„ Hallo, hier bin ich. Könnte ich, bitte, so schnell wie möglich einen Termin bekommen?“
„ Tut mir leid, die Praxis ist erstmal geschlossen. Wegen der Quartalabrechnung. Rufen Sie bitte in zwei Wochen an.“

264876451987349…………..zzzzzzz.......zzzzzzz..............zzzzzzz

„Hallo, hier ist die Praxis von Dr.Iris Blau, was kann ich für Sie tun?“
„Hallo. Ich habe Sehstörungen und bräuchte dringend einen Arzt. Könnten Sie mir in nächster Zeit einen Termin geben?“
„Sehen Sie Blitze?“
„Und was für welche!“
„Dann mussten Sie dringend zu einem Arzt gehen.“
„Sag ich ja.“
„Leider haben wir jetzt die Quartalrechnungen und können keinen Termin vergeben.“

267620917280……………….zzzzzzz..........zzzzzzz............zzzzzzz

„Hallo, hier ist die Praxis von Dr. Ernst Schielt, was kann ich für Sie tun?“
„Hören Sie, ich habe massive Sehstörungen. Von Schnee einseitig, bis Schneegestöber total und Blitze, so buntfeurig, die keiner zu beschreiben vermag. Hätten Sie einen Termin frei?“
„Oje, das könnte eine Netzhautablösung sein. Aber wir haben Quartalabrechnungen. Leider haben wir erst am 10.November einen Termin frei. Wie war Ihr Name?“
„Jets Reichtsabba.“

216453839……………………zzzzzzz.........zzzzzzz..........zzzzzzz

„Hallo, hier ist die Praxis von Dr.Sehschonwieder und Dr. Auchnichtmehrlange. Was kann ich für Sie tun?“
„Einen Termin, bitte, es blitzt, es zuckt und pulsiert. Und Sie haben sicherlich Quartalabrechnung.“
„Ja haben wir, aber morgen ist von 9bis 12 geöffnet. Wie war Ihr Name?“
„Herrgott, Danke!“
Es gibt in dieser Deutschen Bürokratenrepublik eine Praxis, die für mich gequälter Seele noch geöffnet hat.

Ich zitterte, dass mein „gesundes Aug“ vielleicht eine Netzhautablösung hat und dann tschüss Internet, dann haben die mich endlich los.


Haben sie nicht. Das gesunde Aug ist halt nicht mehr so jung, aber es ist einigermaßen gesund. Und ob sich die Netzhaut vom Unfallauge löst, das kann der Onkel Dok nicht sagen, weil die Pupille zu verkrustet ist. Es wäre gut, wenn ich mich zu einer Operation bereit erklären würde, damit er die Kruste abträgt. Ich würde ja danach auch nicht sehen, aber er könnte sehen, was sich dahinter tut.


Witzig. Ist mir doch schnurzpiepegal, ob sich die Netzhaut auf dem kaputten Aug löst. Ich seh eh nix damit. Und nur damit der Dok sieht, was er nicht sehen kann- also, neeeeee!


Ja, da würde er mir noch gerne eine Überweisung zum Neorologen machen, denn die Sehstörungen könnten auch von Kreislaufstörungen kommen. Leider geht das heute nicht mehr, denn da sind die Quartalsabrechnungen.


Lang lebe unser nicht ganz dichtes Gesundheitswesen!

© Lisa Nicolis



Schicksale

Es ist warm. Viel zu warm. Sie hätte zuhause bleiben müssen. Ein leichtes Angstgefühl beschleicht sie und sie kann nur schwer atmen.

Das große, mit Blüten übersäte Rundbeet ist im Halbkreis von Bänken eingefasst. Hier setzt sie sich etwas unentschlossen hin. Vielleicht hätte sie die Kraft aufbringen müssen, das bisschen Weg bis nachhause zu schaffen. Ja, sie hätte weitergehen müssen, überlegt sie. Doch irgendwie wollen ihre Beine sie nicht mehr tragen.

Die alte Dame versucht sich auf die wunderschönen Blumen zu konzentrieren. Auf das Vogelgezwitscher und auf das seichte Wippen der Äste, wenn ein Vogel davonfliegt.

In ihrer Nähe sitzt ein Liebespärchen. Sie sieht flüchtig hinüber, kann nicht hören was er sagt, doch seine Lippen lassen erkennen, was er seiner Liebsten zuflüstert. Drei Worte, die jeder gerne hört, egal, in welchem Alter er ist.

Ihre Blicke gleiten wieder über die Wege, die sich in alle Richtungen verzweigen. Viel zu viele Menschen beunruhigen ihre Blicke. Lenken sie kurz ab. Sie möchte den Park fühlen. Doch sie horcht schon wieder in sich hinein. Eine schlechte Angewohnheit, die ihr das Leben schwer macht und diese Angstgefühle noch steigert.

Sie fragt sich, ob sie es nachhause schaffen werde, ohne eine Panikattacke zu bekommen. Da fällt ihr Blick wieder auf das Pärchen.

In diesem Moment gleitet der junge Mann wie eine Marionette von der Bank auf den weißen Kies vor die Füße seiner Partnerin. Sie sieht das fassungslose Gesicht der jungen Frau, begreift aber nicht, was da passiert ist.

Die Frau kniet neben ihn, ruft seinem Namen, sieht verzweifelt um sich, schreit um Hilfe.

Ein Mann steigt vom Fahrrad, eilt zu den beiden hin. Sie sieht wie der Fahrradfahrer dem jungen Mann die Wangen tätschelt, in seinem Gesicht herum fummelt, sein Hemd öffnet und ihn beatmet.

Es kommen immer mehr Menschen hinzu. Und die alte Dame sitzt nur da, ihre Arme und Beine sind bleiern und ein stechender Schmerz in ihrem Hinterkopf setzt sie komplett außer Gefecht.

Die junge Frau schreit noch immer verzweifelt. Jeder Laut, der ihren Lippen entflieht, lässt das Herz der alten Dame höher und höher schlagen. Sie müsste weggehen, aber sie schafft es nicht. Sie weiß, dass ihr Blutdruck jetzt in die Höhe schnellt und greift automatisch nach ihrer Tasche. Ihre Finger zittern und sie brauche eine viel zu lange Zeit, bis sie ihre Blutdrucktabletten gefunden hat.

Sie hört das Martinshorn der Feuerwehr, sieht, wie die Helfer mit einer Trage heran laufen.

Die Laute, die jetzt über die Lippen der jungen Frau kommen, lassen die alte Dame erschauern und wissen, dass der Tod ganz nah an ihr vorbei gegangen ist, sie trotz ihrer Kraftlosigkeit noch nicht wollte und sich diesen jungen Mann ausgewählt hatte. Ihn, der mitten im Leben stand, der von menschlicher Wärme, von Frühling, von Träumen umgeben, nichtsahnend zu diesem makabren Stelldichein geeilt war.

Und als es viel später um die alte Dame herum wieder still wird, als wenn nichts passiert wäre, rafft sie sich auf und geht unsicheren Schrittes heimwärts, an der Bank vorbei, wo vor kurzem noch das Leben blühte. Sie pflückt eine rote Rhododendronblüte und legt sie auf den weißen Kies.

Ihr Herzklopfen hat sich beruhigt. Nur ihre Beine zitterten noch. Und sie fragt sich immer wieder, was den Tod bewogen hatte, nachdem er ihr sicherlich lange ins Gesicht gesehen hatte, dieses junge Leben zu pflücken.

© Lisa Nicolis



Rerik

Ich stehe morgens duselig auf. Meine Schwiegertochter ruft aus Italien an. Wir sprechen über Gott und die Welt und als sie auflegt, fällt mir ein, in diesem Jahr hab ich das Meer nicht gesehen. Ich war überhaupt nicht weg aus Berlin.

Noch im Nachthemd setze ich mich an den Computer. Ich muss ans Meer, denke ich fieberhaft.

Italien ist weit weg. Ich habe Flugangst und ich möchte auch mal an die deutsche Küste. Am liebsten an die Nordsee. Doch die ist mir zu weit weg.
Also Ostsee.

Ich googlemapse um die Ostsee herum und irgendwie bleibe ich in Rerik hängen. Finde auf Anhieb eine Ferienwohnung, die frei ist. Telefoniere mit dem Omnibusbahnhof und erfahre, dass der Linienbus nach Rerik morgen das letzte Mal in dieser Saison um 08:00 aus Berlin startet.

Ich rufe in Rerik an. Man sagt mir die Wohnung zu, ich kann morgen kommen.

Mein Mann fällt aus allen Wolken, als er von seinem Glück, morgen Koffer schleppen zu dürfen, erfährt.

Ich habe keine Zeit zu verlieren. Muss die Wohnung ordentlich zurücklassen und die Koffer packen.

Mit rebellierendem Magen und Mann sitze ich dann am nächsten Tag im Linienbus, besser gesagt Linienminibus. Außer dem Fahrer und mir sitzt, wie schon erwähnt, mein Mann mit im Bus. Und welch ein Andrang! Noch ein Fahrgast besteigt diesen. Den Minibus eben.

Da Platz genug ist, sitzen wir recht verstreut herum. Der Fahrer hockt eigensinnig am Steuer, MF (männlicher Fahrgast) hinter ihm, in der zweiten Reihe, dann mein Mann. links von MF in der dritten Reihe und ich, frag nicht warum, hinter meinem Mann.

Die Landschaft kann langweiliger auch auf dem Mond nicht sein. Und ich denke, wenn das Wetter weiterhin so bedeckt bleibt, müssen wir uns wohl auch in Rerik warm zudecken. Wenn wir nur haben werden, mit was.

Nach Schwerin beginnt das Navigationsystem wie eine Blechkuh zu muhen.

Wir drei zahlenden Einsitzenden schnellen hoch. Das Geräusch geht dermaßen auf den Lachnerv, dass ich nur verhalten in mich hineinlache, weil der Fahrer, der im Innenspiegel zu sehen ist, recht grimmig dreinblickt. Die Schultern von MF zittern gewaltig, da er genau so verhalten in sich hineinlacht. Und weil wir alle in uns hineinlachen, tut mein Mann das auch, und, indem er seinen vom verhaltenen Lachen hochrot gefärbten Kopf mir zuwendet, bringt er das Fass fast zum Überlaufen.

Im Intervall von je einer halben Stunde muht es blechern. War das Muhen ursprünglich eine Kuh? Oder ist es einfach ein elektronisches Fehlverhalten eines Navigationssystems, das sich weigert, nur die menschliche Sprache zu beherrschen?

Der Fahrer sieht noch immer grimmig drein, aber uns dreien plagt das verhaltene Lachen auch, wenn es nicht muht. Wir müssen nur ans Muhen denken und schon zittern die Schultern von MF, mein Bauch und die hochroten Ohren meines Mannes.

Nicht genug, dass ich schon halbtot vom verhaltenen Lachen bin, nee, es kommt noch besser. Kurz vor unseren Ziel kommt von draußen, von irgendwelchen Stallungen, ein fürchterlicher Gestank durch alle Miniritze des Minibusses. Und da sagt MF den einzigen Satz, den ich von ihm gehört habe. Er sagt: „Jetzt hat diese Kuh auch noch reingeschissen!“

Dass mein Zwerchfell noch ganz ist, bezweifle ich. Wenn ich an dieses komische Geräusch denke und an die ganze Situation, werde ich noch in hundert Jahren genauso hemmungslos lachen. Wenn auch nicht so verhalten.


© Lisa Nicolis


----------------------------------------------------------------------------------------------------------------